Spermidin

Spermidin, auch Monoaminopropylputrescin genannt, ist ein biogenes Polyamin und ein Zwischenprodukt bei der Bildung von Spermin aus Putrescin und decarboxyliertem S-Adenosylmethionin.

Der Name Spermidin wie auch des Spaltungsproduktes des Zellkerns Spermin ist von der männlichen Samenflüssigkeit abgeleitet, da Philipp Schreiner 1870 die stickstoffhaltige Base Spermin aus Sperma isolierte und diese sowie weitere Erkenntnisse 1878 unter dem Titel Ueber eine neue organische Basis in thierischen Organismen in Justus Liebigs Annalen der Chemie veröffentlichte.

Nach heutigen Erkenntnissen kommt Spermidin in allen lebenden Organismen und in allen Körperzellen vor und ist eng mit dem Zellwachstum verbunden. Die genaue physiologische Funktion des Spermidins in wachsenden Zellen, beispielsweise bei der Produktion von Nukleinsäuren und Proteinen oder Membranstabilisierung, ist jedoch noch nicht vollständig geklärt. Die Menge von Spermidin im Organismus erhöht sich bei einer Beschleunigung des Stoffwechsels. Bei einer Verlangsamung des Stoffwechsels geht die Produktion von Spermidin zurück. Die Konzentration an körpereigenem Spermidin nimmt zudem beim Altern ab.

Natürliche Umstände, die den Spermidinwert steigen lassen, sind Wachstum, Schwangerschaft, Reparatur von Muskelzellen nach starker sportlicher Anstrengung sowie Regenerierung der roten Blutkörperchen nach Blutverlust bzw. -armut oder nach längeren Höhenaufenthalten. Diverse Krankheiten werden ebenfalls durch erhöhte Spermidinwerte signalisiert, z. B. chronische Entzündungen der Gelenke („Rheuma“), der Leber (Hepatitis), des Darmes (Colitis) und der Haut (Ekzeme, Psoriasis).

Biochemische und physiologische Wirkung

Nach bisherigen Erkenntnissen inhibiert Spermidin die neuronale NO-Synthase (nNOS, ein Enzym, welches Stickstoffmonoxid (NO) synthetisiert), bindet und präzipitiert DNA, stimuliert die Aktivität der T4-Polynukleotidkinase und trägt zur Verbesserung der Beschichtung mit DNA bei der Munition der Genkanone bei.

Spermidin induziert die Autophagie. Die Induktion von Autophagie durch Spermidin beruht unter anderem auf einer Inhibierung von Acetyltransferasen wie EP300. Als weitere potentielle Mechanismen wurden unter anderem transkriptionelle Effekte, eine Stabilisierung des Mikrotubuli-assoziierten Proteins 1S (MAP1S) sowie eine Modulierung des mTOR-Signalwegs beschrieben.

Vorkommen in Nahrungsmitteln

Nahrungsmittel mit hohem Spermidingehalt sind Vollkorn bzw. Weizenkeime, gereifter Käse, Pilze, Sojaprodukte und Hülsenfrüchte.

Zum Vergleich: Der Spermidingehalt in menschlichem Samenplasma (Zellfreies Ejakulat) beträgt 15 bis 50 mg/L (Mittelwert 31 mg/L).

NahrungsmittelSpermidin
mg/kg
Anmerkungen
Weizenkeime 243
Sojabohnen, getrocknet207Japan
Cheddarkäse, 1 Jahr gereift199
Sojabohnen, getrocknet128Deutschland
Kürbiskerne104Österreich
Pilze89Japan
Reiskleie50
Hühnerleber48
Erbsen46
Hackfleisch, Rind 37
Mais 32
Mango30
Kichererbsen29
Dill 29
Sellerie 27
Blumenkohl (gekocht)25
Brokkoli (gekocht)25
Haselnüsse 21
Kopfsalat 19
Okra 19
Vollkornbrot 18
Spinat 16
Melone 12

Forschung

Spermidin wirkt verstärkend auf die Autophagie, einen zellulären Prozess, der für die allgemeine Zellaktivität von Proteinen sowie die Funktion der Mitochondrien und Kardiomyozyten (Herzmuskelzellen) entscheidend ist. Im Tierversuch an Fruchtfliegen hatte sich gezeigt, dass eine Zufuhr von Spermidin durch die Nahrung bei diesen Insekten der altersbedingten Demenz entgegenwirkt. (Originalartikel) Einer Forschungsgruppe um den Grazer Molekularbiologen Frank Madeo gelang in Labormäusen der Nachweis, dass Spermidin vor kardiovaskulären Erkrankungen schützt und damit zur Lebensverlängerung beitragen kann. Es verzögert die Herzalterung, indem es die diastolische Funktion verbessert. Im Tierversuch wurde nachgewiesen, dass Hypertonie, ein wesentlicher Verursacher von Herzinsuffizienz, durch Spermidin gesenkt wird. Spermidin verringerte dabei die pulmonale bzw. systemische Flüssigkeitsansammlung, die für Herzinsuffizienz charakteristisch ist. Bei den Versuchen wurde auch eine protektive Wirkung auf die Nierenfunktion erkannt. Die Aufnahme von Spermidin in entsprechender Ernährung korrelierte umgekehrt zum Vorkommen der Herzinsuffizienz. In den Untersuchungsgruppen (Hoch- bzw. Niedrigaufnahme) war das Erkrankungsrisiko der Hochaufnahmegruppe um 40 Prozent reduziert.

Im August 2018 veröffentlichten österreichische, französische und englische Kliniker und Forscher die Ergebnisse eines zwanzigjährigen klinischen Beobachtungszeitraums (1995–2015), in welchem die Aufnahme von Spermidin in den Ernährungsgewohnheiten einer Personengruppe regelmäßig protokolliert worden war. An der Untersuchung nahmen 829 zwischen 45 und 84 Jahre alte Menschen (Männeranteil 49 Prozent) teil. In diesem Zeitraum starben 341 der Personen, und zwar 40,5 Prozent von ihnen im unteren Drittel der Spermidinaufnahme, 24 Prozent im mittleren und 15 Prozent im oberen Drittel. Das unterschiedliche Mortalitätsrisiko von Menschen des oberen Drittels im Vergleich zu jenem des unteren Drittels entsprach dabei einem um 5 bis 7 Jahre geringerem Alter. 

In Zellversuchen konnten Virologen der Charité Berlin um Christian Drosten und Marcel Müller zeigen, dass humane Lungenzellen, die mit SARS-CoV-2 infiziert wurden, verminderte Autophagie betrieben. Zudem waren die Spermidin-Level in diesen Zellen deutlich vermindert. Durch die Gabe von Spermidin konnte schließlich auf die Infektion Einfluss genommen werden. Die Viruslast war um 85 % nach Gabe der körpereigenen Substanz reduziert.

Weiterhin konnten die Forscher zeigen, dass gesunde Zellen, die vorher mit Spermidin behandelt wurden, vor einer Infektion deutlich geschützt waren. Die Virusvermehrung war in diesen Zellen um 70 % reduziert. Die Autoren der Studie schließen, dass sich daraus neue Forschungsansätze sowohl für die Therapie als auch für die Prävention ergeben. Bislang fehlen allerdings aussagekräftige Studien an Menschen, und es ist nicht bekannt, ob sich wirksame Gewebekonzentrationen durch die orale Zufuhr von Spermidin praktisch überhaupt erreichen lassen.

2018 stellten Forscher mit einer randomisierten kontrollierten Studie fest, dass im Vergleich zur Kontrollgruppe, die nur ein Placebo erhalten hatte, eine Spermidin-Supplementation über einen Zeitraum von drei Monaten bei der Behandlungsgruppe die Gedächtnisleistung moderat verbesserte.

Die vorhandenen wissenschaftlichen Belege seien aber nicht ausreichend, um Spermidin-haltigen Nahrungsergänzungsmitteln einen Nutzen zur Prophylaxe von Alterserscheinungen zuzuschreiben.

Verträglichkeit und Nebenwirkungen

In einer dreimonatigen Phase-II-Studie mit einem Pflanzenextrakt, der reich an Spermidin war, konnte bei einer Dosis von 1,2 mg pro Tag eine gute Verträglichkeit an älteren kognitiv beeinträchtigten Menschen festgestellt werden. Im Vergleich dazu liegen im Tiermodell Farbmaus die Dosen, bei denen ein Autophagie-stimulierender Effekt gemessen werden konnte, bei 50 mg/kg Körpergewicht und intraperitonealer Verabreichung. Bei einem Zehntel der Dosis war dieser Effekt erheblich schwächer ausgeprägt.

Bisher gibt es noch kein zugelassenes Arzneimittel auf der Basis eines Wirkstoffes Spermidin, sondern lediglich Nahrungsergänzungsmittel. Ein bestimmter Weizenkeimextrakt mit Spermidin ist als neuartiges Lebensmittel (Novel Food) zugelassen und darf unter der Bezeichnung „Weizenkeimextrakt mit hohem Spermidingehalt“ in Nahrungsergänzungsmitteln für Erwachsene (Schwangere und Stillende ausgenommen) verkauft werden. Die erlaubte Höchstmenge an Spermidin liegt bei 6 mg pro Tag.

Strukturformel
Strukturformel von Spermidin
Allgemeines
Name Spermidin
Andere Namen
  • Monoaminopropylputrescin
  • 1,5,10-Triazadecan
  • N-(3-Aminopropyl)butan-1,4-diamin (IUPAC)
Summenformel C7H19N3
Kurzbeschreibung

farblose, klare Flüssigkeit

Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer 124-20-9
EG-Nummer 204-689-0
ECHA-InfoCard 100.004.264
PubChem 1102
ChemSpider 1071
DrugBank DB03566
Wikidata Q418834
Eigenschaften
Molare Masse 145,25 g·mol−1
Aggregatzustand

flüssig

Dichte

0,93 g·cm−3

Schmelzpunkt

22–25 °C

Sicherheitshinweise
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung
Gefahrensymbol

Gefahr

H- und P-Sätze H: 314
P: 280305+351+338310
Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen.