Gewollter Stress im Habitat von Latilactobacillus sakei
Frischkäsealternativen: Nicht nur vegan, sondern auch ausgewogen
Lebensmitteltechnologen forschen an Frischkäsealternativen, die weniger Zucker und Fette enthalten und ohne Zusatzstoffe auskommen, dafür reich an Pflanzenproteinen sind.
Julia Matysek und Robert Sevenich verbreiten Stress unter dem Latilactobacillus sakei. Ganz bewusst. Ganz gezielt. Mit gepulsten elektrischen Feldern und Ultraschall erzeugen sie eine Umgebung, in der es für das Milchsäurebakterium ungemütlich wird. Dagegen setzt sich der Latilactobacillus sakei zur Wehr und produziert Exopolysaccharide. Und das ist genau der „Stoff“, auf den es die beiden Wissenschaftlerinnen abgesehen haben.
Julia Matysek und Dr.-Ing. Robert Sevenich forschen am TU-Fachgebiet Lebensmittelbiotechnologie und -prozesstechnik unter Leitung von Prof. Dr.-Ing. Cornelia Rauh zusammen mit Wissenschaftlern der belgischen Universität KU Leuven daran, vegane Frischkäsealternativen und Brotaufstriche zu kreieren, die reich an pflanzlichen Proteinen sind, aber ohne Hydrokolloide auskommen, also ohne deklarationspflichtige Zusatzstoffe, und trotzdem eine cremige Textur aufweisen. Und dazu benötigen sie die Exopolysaccharide. Produkte ohne Zusatzstoffe firmieren in der Lebensmittelindustrie unter „Clean-Label-Produkten“ und werden von Verbraucherinnen und Verbrauchern zunehmend nachgefragt.
Auf Kosten der Nährwerte
Hintergrund ihrer Forschung ist, dass die derzeit im Handel erhältlichen veganen Frischkäsealternativen und Brotaufstriche auf Basis von Mandeln, Hafer oder Erbsen zwar cremig und streichzart sind. Jedoch gehen Cremigkeit und Geschmack auf Kosten der Nährwerte. „Sie enthalten viele Kohlenhydrate in Form von kurzkettigem Zucker, viel Fett, pflanzliches Fett zwar, und eben viele deklarationspflichtige Zusatzstoffe wie E 330, E 440, E 509, E 511. Die Zusatzstoffe binden Wasser und wirken stabilisierend, sodass der Aufstrich eine cremige Textur behält. Zusammen mit Zucker sowie Kokos- oder Palmöl sorgen sie für das passende Mundgefühl und verhindern, dass sich die Bestandteile trennen. Durchschnittlich liegt der Zuckeranteil derzeit in veganen Aufstrichen bei zehn Gramm pro 100 Gramm und der Fettanteil bei 25 Gramm. Pflanzliche Proteine dagegen machen in diesen veganen Aufstrichen nur einen Bruchteil der Rezeptur aus“, sagt die Lebensmitteltechnologin Julia Matysek. Also vegan, aber noch nicht sonderlich ausgewogen.
Erwünscht: Die säuerliche Note wird präsenter
Das möchten Julia Matysek und Dr.-Ing. Robert Sevenich ändern. Ihr Ausgangsprodukt ist eine selbst hergestellte Pflanzenmilch. Diese besteht aus Hanf-, Erbsen- und Kartoffelproteinen und hat einen deutlich geringeren Anteil an Zucker. Auf den Zucker kann nicht in Gänze verzichtet werden, da er als „Nährstoff“ für die Fermentation benötigt wird. Diese so hergestellte Pflanzenmilch wird für die Fermentation mit dem Milchsäurebakterium Latilactobacillus sakei, kurz L. sakei, beimpft. Warum? Das Bakterium kann während der Fermentation Exopolysaccharide (EPS) bilden, die die Aufstriche cremig und streichzart machen. Somit können die oft zugesetzten Zucker und der hohe Fettgehalt in den veganen Frischkäsealternativen und Brotaufstrichen ersetzt beziehungsweise zumindest reduzieren werden.
„Zudem tritt durch die Fermentation der bohnige Geschmack der Pflanzenproteine in den Hintergrund und die säuerliche Note, wie man sie vom tierischen Käse kennt, wird präsent. Da die Fermentation von Pflanzenproteinen jedoch schwierig ist im Gegensatz zur Fermentation von Kuh-, Schafs- oder Ziegenmilch werden die veganen Frischkäsealternativen bislang künstlich angesäuert durch die Zugabe von Säuerungsmitteln. Wir suchen jedoch nach einem natürlichen Weg. Unseren Kolleginnen in Leuven ist es gelungen, das Milchsäurebakterium L. sakei zu identifizieren, was in der Lage ist, Pflanzenmilch optimal in Hinblick auf die Bildung von EPS zu fermentieren. Da steckt enorm viel Forschung drin“, so Julia Matysek.
Schutzmechanismus gegen widrige Umgebungen
Neben dem klassischen Weg der Fermentation bei unterschiedlichen Temperaturen experimentieren Julia Matysek und Dr.-Ing. Robert Sevenich noch mit zwei anderen Technologien: Bei diesen wird der L. sakei vor der Fermentation, wie eingangs erwähnt, mit gepulsten elektrischen Feldern (PEF) und Ultraschall gestresst. Mit diesen zwei innovativen Verfahren untersuchen sie, welchen Einfluss die Stressung der Bakterien auf deren EPS-Bildung hat. Diese haben vor allem das Ziel, viel EPS in wirtschaftlich vertretbarer Zeit herzustellen, um den Prozess aus dem Labor- in den Industriemaßstab zu überführen und ihn für kleine und mittelständische Unternehmen anwendbar zu machen. „Um das Maximum an EPS ‚herauszukitzeln‘, erzeugen wir mit den beiden Verfahren ein Umfeld, das den optimalen Wachstumsbedingungen der Milchsäurebakterien L. sakei in unserer Matrix aus Hanf-, Erbsen- und Kartoffelproteinen entgegenwirkt. Sie geraten in Stress und versuchen sich dagegen zu schützen, indem sie EPS produzieren. Die EPS-Produktion ist also ein Schutzmechanismus gegen diese widrigen Umgebungen“, erklärt Dr.-Ing. Robert Sevenich.
Werkzeugkasten für KMU
Noch ist nicht erwiesen, bei welcher der drei Methoden – Fermentation mit Temperaturvariationen oder mit vorgeschalteter Stressung mit gepulsten elektrischen Feldern oder Ultraschall – die Milchsäurebakterien L. sakei die meisten EPS produzieren. „Wir haben jedoch erste Hinweise, dass das PEF-Verfahren am geeignetsten sein könnte – einmal unter dem Aspekt der Quantität und Qualität des produzierten EPS und der Integrierbarkeit in industrielle Verfahren“, so Sevenich. „Am Ende des Projektes möchten wir kleinen und mittleren Unternehmen einen Werkzeugkasten an die Hand geben, der Aussagen darüber trifft, bei welcher Zusammensetzung der Proteinmilch und bei welchem Verfahren die EPS-Produktion am größten ist und hinsichtlich Textur, Geschmack und – ganz wichtig – Nährwertgehalt die erfolgversprechendsten Frischkäsealternativen beziehungsweise Brotaufstriche hergestellt werden können.“
Das Vorhaben „Vegan Spreads“ wird im Programm zur Förderung der Industriellen Gemeinschaftsforschung durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz sowie auf belgischer Seite durch die Agentschap Innoveren en Ondernemen gefördert.