Viel Lärm ums Ei: Vom Umgang mit Lebensmittel-Skandalen

31.08.2017 - Deutschland

Schon bei Thomas Mann hatte das Frühstücksei hohen Symbolgehalt. Kein Wunder, dass der Fipronil-Skandal tief an der deutschen Seele rührt. Und dann gibt es ein Viertel der Gesellschaft, dem das Ei genauso wurst ist wie jeder andere Lebensmittelskandal. Wie passt das zusammen?

Pferdefleisch in der Lasagne, Mäusekot im Brotteig, Darmkeime an Sprossen: die Liste der Lebensmittelskandale liest sich schauerlich. Wo Verunreinigungen bekanntwerden - wie aktuell das Insektengift Fipronil in Eiern - ist die Aufregung groß: Verbraucher lassen sich von Ärzten untersuchen, Hersteller und Händler vernichten riesige Mengen belasteter Lebensmittel. Und Kontrolleure in Gruppen mit militärisch klingenden Namen suchen Fehler in immer unübersichtlicheren, globalen Produktionsketten.

Lebensmittelspezialisten treten heute als «Task Forces» in Erscheinung, nicht mehr als Individualexperten mit sperrigen Namen wie «Ökotrophologe». «Task Force», das klingt nach Sturmhauben und nächtlichen Hubschraubereinsätzen, nach einer Art SEK der Lebensmittelsicherheit. Tatsächlich fahren Lebensmittelkontrolleure in der Regel mit dem Auto und melden sich vor dem Besuch meist an.

Die martialische Namensgebung passt in eine Zeit, in der schon kleinste Verunreinigungen ein weltweites Echo hervorrufen: In einem Land, wo sich der Wert einer Suppe noch vor Jahren an der Größe der Fettaugen bemaß, sorgen heute selbst kleinste private Laster für öffentliche Ächtung. Wer keinen Sport treibt, raucht, trinkt oder sich schlecht ernährt, hat in der Selbstoptimierungsgesellschaft mit ihren Schritt- und Kalorienzähler-Apps einen schlechten Leumund.

Dahinter steht ein Kulturwandel: verunreinigte Lebensmittel sind umso skandalöser, je höher die Hygienestandards einer Gesellschaft liegen und je mehr die Frage der Ernährung und des Lebenswandels vom Privatthema zum öffentlichen Statusnachweis wird: Du bist, was Du isst. Das wusste schon der Philosoph Ludwig Feuerbach (1804-1872).

Die erste bundesweite «Task Force» gab es 2011. Die Expertengruppe mit Sitz im Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) sollte den Ehec-Skandal entschärfen: Gefahren erkennen und beheben, die Öffentlichkeit informieren, Falsches von Fakten trennen. Damals zählte das Robert Koch-Institut 3842 Erkrankungsfälle und 53 Tote - ausgelöst durch mit Darmkeimen belastete Sprossen. Auch in den Ländern gibt es seit einigen Jahren «Task Forces», die Prävention betreiben und im Ernstfall dafür sorgen sollen, dass kein Problemfeld übersehen wird.

Beim aktuellen Fipronil-Skandal wiegt mit Blick auf die öffentliche Aufmerksamkeit besonders schwer, dass mit dem Ei eine Art nationales Kulturgut betroffen ist: In seiner Zubereitung als Frühstücksei ist es so deutsch wie Tennissocken in Sandalen, das Bundeskleingartengesetz oder die Nationalhymne.

Das belegt auch der Blick in den Kanon der jüngeren Kulturgeschichte. In Thomas Manns «Buddenbrooks» stärkt sich Kaufmannstochter Tony morgens mit einem heißen Ei, während ihr Ehemann - nach englischer Sitte - halbgares Kotelett und Rotwein frühstückt. Bei Loriots Knollennasen wiederum wird die Diskussion zwischen zwei Eheleuten über den optimalen Härtegrad des Eis zum Sinnbild aller Schwächen der bürgerlichen Ehe.

Sogar ein Spezialbesteck hat man sich im Land von Goethe und Schiller ausgedacht: den Eierlöffel, der für kulturell unsensible Betrachter wie ein Teelöffel aussieht. Auf den Kalkschalen eines jeden Eis findet sich zudem eine Art Personalausweis: ein Barcode, der Auskunft über das Herkunftsland, die Haltungsform und den exakten Betrieb, aus dem das Ei stammt, gibt.

In der Berichterstattung zum Fipronil-Skandal finden sich in Deutschland folgerichtig nicht nur jene Fälle, in denen Betriebe das Mittel unerlaubterweise eingesetzt haben oder in denen kontaminierte Lebensmittel gefunden wurden: Selbst zu Funden einzelner verdächtiger Eier tauchen Meldungen auf. Auch wo noch kein Fipronil entdeckt wurde, wird zum Teil berichtet.

Aus Sicht des Bundesinstituts für Risikobewertung steckt dahinter aber keine hysterische Öffentlichkeit. Etwa einem Viertel der Bevölkerung sind Lebensmittelskandale demnach sogar grundsätzlich egal. Gesundheitlicher Verbraucherschutz habe für diese Gruppe «erkennbar keine lebensrelevante Bedeutung», teilt das Institut mit, das seit 2014 jährlich eine Verbraucherbefragung durchführt und dabei abgefragt, wie Menschen die Sicherheit von Lebensmitteln einstufen. Für eine Gesamtschau reicht dieser Zeitraum freilich nicht.

Dass sich aber Keime und andere Verunreinigungen heute schneller verbreiten als noch vor einigen Jahren, sieht die WHO als erwiesen an. Erschwerend kommt hinzu, dass Kontrolleure oft nur einen Teil der Produktionskette in den Blick nehmen können. Denn während sich die Warenströme globalisiert haben, sind die rechtlichen Rahmenbedingungen in vielen Ländern höchst unterschiedlich.

Aus Sicht des BfR ist es vor allem die Unsicherheit, die die öffentliche Erregung anschwellen lässt: Angst entsteht, wo Verwirrung herrscht, wo Experten unterschiedliche Angaben machen oder Medien bei unklarer Faktenlage Interpretationsspielräume nutzen.

Die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch sieht eher die Behörden in der Pflicht. Warnungen vor möglicherweise gesundheitsgefährdenden Lebensmitteln erreichten die Menschen in Deutschland oftmals zu spät oder gar nicht, sagt Geschäftsführer Martin Rücker.

Wo alles zusammenkommt, ändern Menschen ihr Kaufverhalten teils drastisch. Doch nicht für lange. Zeitgeistig - im Grunde analog zur Kommunikation in sozialen Netzwerken - lässt die Empörung bald nach oder weicht anderen Themen: «Das Ausmaß konkreter und erst recht langfristiger Verhaltensänderungen fällt sehr gering aus», teilt das BfR mit.(dpa)

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